Zukunftsängste
Es scheint, als wäre die Welt ein schlechter Ort (geworden). 60 % der Bevölkerung in der Schweiz schaut pessimistisch in die Zukunft, das sagt das Hoffnungsbarometer 2023 der Universität St. Gallen und Swissfuture. Das habe ich heute gelesen und irgendwie ist jetzt vielleicht Zeit für ein paar Gedanken dazu.
Wenn wir Nachrichten schauen, dann geht es um den Krieg in der Ukraine, zunehmende Spannungen im Kosovo, Spitalbetten auf den Gängen, fehlende Fachkräfte (insbesondere im Gesundheitswesen), steigende Krankenkassenprämien, Strommangellage, Inflation, … . Das reicht, oder?
Es ist offensichtlich. Die Welt ist schlecht und die Menschen auch. Wenn sie nicht schlecht sind, dann sind sie arm, weil sie unter den Bedingungen leiden. Ganz einfach.
So einfach ist es nicht
Bei all den negativen Nachrichten scheint es, als gäbe es nicht (mehr) viel Gutes. Ach, in der Einleitung hätte noch Corona oder Klimakrise stehen können oder sollen. Die Zukunft sieht düster aus. Das heisst aber auch, dass ich mich am Aussen orientiere, an dem, was ich kaum beeinflussen kann und somit die vielen Möglichkeiten verpasse. Möglichkeiten, Gutes zu tun. Möglichkeiten, die Welt zu verändern. Auch wenn es «nur» die eigene ist.
Die Welt verändern?
Klingt gross und beginnt (so sehe ich das zumindest) ganz klein. Wenn wir einen Schritt zurückmachen, dann könnten wir uns fragen, welche von den Krisen dieser Multikrise betrifft uns ganz direkt? Also, wenn wir keine Medien konsumieren würden, wovon wüssten wir? Wovon würden wir ganz direkt etwas sehen oder spüren? Das mag angesichts der oft kollektiven Empörung, Verängstigung etc. ignorant klingen, aber ist es das wirklich? Es könnte ein leerer Raum entstehen. Ein Raum, in dem wir uns fragen könnten, wie geht es mir? Was ist mir wichtig? Wofür möchte ich einstehen? Es wäre ein Akt der Achtsamkeit.
Eine Person allein kann nichts ausrichten
Das würden wir wohl oft hören, wenn wir darüber sprechen, wie eine Person den Unterschied machen kann. Die Frage ist, was dieses «Nichts» ist. Wenn wir davon ausgehen, den Krieg zu beenden, den Klimawandel sofort zu stoppen, den Fachkräftemangel zu «besiegen» etc., dann können wir nichts ausrichten. Das müssen wir aber gar nicht. Wir müss(t)en uns nicht einmal aktiv damit beschäftigen. Wir könnten uns mit dem verbinden, was uns wichtig ist, wir könnten freundlich und aufmerksam gegenüber unseren Bedürfnissen sein, wir könnten für unsere Mitmenschen da sein und ihnen Aufmerksamkeit schenken. Es wäre ein Akt der Achtsamkeit.
Wirksam für die (sozialen) Medien, aber sonst…
Da kommt mir immer wieder der Applaus für die Pflegekräfte in den Sinn (und, es gäbe noch viele andere Beispiele), die zwar gut gemeint sind, aber halt nicht viel bewirken (oder, sind wir ehrlich, nichts bewirken). Man tut lieber, was die anderen tun, postet es auf Insta, Linkedin, in die Whatsapp Story oder wo auch immer und erntet selbst Likes dafür. Der Aufwand hält sich oft in Grenzen, dafür ist die erhaltene Aufmerksamkeit umso grösser.
Hier kommt mir ein anderes Beispiel in den Sinn, das mich eine Weile beschäftigt. Während der Fussball WM in Katar wurde das japanische Team so gelobt, weil es die Garderobe sauber und aufgeräumt verlassen hat. Die japanischen Fans wurden gefeiert, weil sie die Tribüne aufräumten, der japanische Trainer, weil er sich verbeugte. Das sind zwar in einer Welt, in der eben vieles nicht so schön oder freundlich aussieht, schöne Beispiele. Was der Preis dafür ist, wird in unserer individualisierten Gesellschaft ignoriert. Es würde sich (immer) auch lohnen, hinter die Fassade einer Kultur (oder die Zusammenhänge) zu blicken. Ich möchte mich diesen komplexen Gesellschafts- und Hierarchieregeln in Japan auf jeden Fall nicht «beugen» müssen. (Dann wären in diesem Land auch noch Arbeitsbedingungen, Gleichstellungsthemen, … . Es ist halt meistens alles etwas komplexer als auf den ersten Blick.)
Selbst(er)kenntnis und Eigenverantwortung
Viele Menschen haben sich von sich und ihren wirklichen Bedürfnissen entfremdet. Wir schauen gerne nach links und rechts, schauen, was die anderen tun und vergleichen uns. Selbsthilfe (-Podcasts, -Bücher, -Youtube-Videos etc.) gibt es tonnenweise. Mehr Erfolg, mehr Sinn, die Berufung, weniger Stress, …, ja, für alles gibt es Lösungen und jede scheint die Richtige zu sein. Es geht wohl eher um Selbstoptimierung (um mehr vom Ich) als um etwas anderes. Vieles davon ist zukunftsorientiert. Wie wäre es aber, mehr im Jetzt zu sein? Wie wäre es, sich selbst zu begegnen? Wie wäre es, freundlich mit sich selbst umzugehen? Wie wäre es, achtsam(er) zu sein?
Noch ein paar Ergänzungen
Währen des Schreibens sind mir immer wieder Aussagen aus Büchern durch den Kopf gegangen. Zuerst wollte ich die in den Text integieren, aber jetzt ergänze ich sie einfach hier mit je einem persönlichen Kommentar.
«Ich bin nicht allmächtig. Ich bin nicht ohnmächtig. Ich bin partiell mächtig.» Ruth C. Cohn
Oft meinen wir vielleicht, angesichts all dieser Herausforderungen (bereits denen im “ganz normalen” Leben) und Krisen ohnmächtig zu sein. Was können wir schon ausrichten? Wir sind weder allmächtig noch ohnmächtig, wir können etwas bewirken oder verändern und sei es auch nur darin, die Situation vorerst «nur» zu erkennen und zu akzeptieren, wie sie ist.
«Ich kümmere mich um meine Angelegenheit, ich bin ich; Du kümmerst Dich um Deine, Du bist Du. Die Welt ist unsere Aufgabe; sie entspricht nicht unseren Erwartungen. Doch wenn wir uns um sie kümmern, wird sie sehr schön sein, wenn nicht, wird sie nicht sein.» Ruth C. Cohn
Passen Individualität und Gemeinschaft zusammen? Oft scheint es mir, dass es entweder das eine oder das andere sein muss. Wir können (dürfen, sollen) aber uns selbst sein, auf unsere eigenen Bedürfnisse achten und die Verantwortung für uns selbst übernehmen. So ist für jeden gesorgt und zusammen können wir unsere Welt und die Zukunft gestalten. Wenn wir eine schöne Welt wollen, dann müssen wir uns um sie kümmern. Gemeinsam. Es geht nicht darum, eine perfekte Welt zu schaffen, sondern eine, auf der wir gerne leben und eine, auf der auch unsere Enkelkinder noch gerne leben und auch leben können.
«Eine Gruppe wird nicht dadurch gestärkt, dass Personen ihre Individualität aufgeben, sondern dadurch, dass diese sich in der jeweiligen Gemeinschaft aktualisieren. Jeder Mensch verwirklicht sich in der Beziehung zu den anderen und in der Zuwendung zur Aufgabe.» Ruth C. Cohn
Auch hier noch einmal. Es geht nicht darum, seine Individualität aufzugebenen. Es geht vielmehr darum, sich selbst in die Gemeinschaft einzubringen. Dort passt man sich auch an, erkennt neue Seiten, wächst, ja, vielleicht erkennt man sich selbst. Man übernimmt Verantwortung für sich und das, was man tut.
«Ich möchte Menschen, die all dieses Leid nicht wollen, ermutigen, nicht zu resignieren und sich ohnmächtig zu fühlen, sondern ihre Vorstellungskräfte und Handlungsvermögen einzusetzen, um sich solidarisch zu erklären und zu verhalten, solange wir selbst noch autonome Kräfte in uns spüren. - Das ist das Eigentliche, was ich mit TZI möchte.» Ruth C. Cohn
Diese Aussage finde ich (gerade in dieser von Krisen geprägten Zeit) ganz wichtig. Können wir uns die Welt vorstellen, in der wir leben möchten? Wir können darauf hinarbeiten und das einsetzen, was wir können, egal wie klein es ist. Wichtig ist, nicht aufzugeben und die Hoffnung nicht zu verlieren. Die Verantwortung für sich selbst übernehmen, zu sich schauen und sich solidarisch zu verhalten, schliessen sich nicht aus.
«Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.» Viktor E. Frankl zugeschrieben
Diesen Raum gibt es und er ist ganz wichtig. Aus meiner Erfahrung kommen wir am ehesten dahin, wenn wir regelmässig Achtsamkeit praktizieren. Wenn wir uns und unser Verhalten, unsere Reaktionen immer besser (er)kennen. Wir können dann anders handeln, wir können uns anders verhalten. Vielleicht handeln wir aber auch dann genau gleich wie vorher. Wir machen es aber bewusst. So können wir uns beispielsweise nach negativen Nachrichten schlecht fühlen, wir können aber auch erkennen, was diese mit uns machen und weniger konsumieren. Vielleicht macht uns die Unsicherheit auch dünnhäutig und schnell(er) gereizt, was dann wieder andere zu spüren bekommen. Was wäre, wenn wir hier den Raum zwischen Reiz und Reaktion wahrnehmen könnten?
«Mensch-sein heisst bewusst-sein und Verantwortlich-sein.» Viktor E. Frankl
Vielleicht fasst diese Aussage das, was ich in diesem Beitrag sagen will, am besten zusammen. Wir sind verantwortlich für uns. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Gerade jetzt sind wir aufgerufen, weg vom Autopiloten (auch, wenn der manchmal gut oder angenehm ist) hin zu einem bewussten Leben. Wenn ich mich und meine Umwelt bewusst(er) wahrnehme, wenn ich Verantwortung für mich und mein Handeln übernehme, wenn ich mich als Gestalter wahrnehmen kann und weiss, dass ich ein Teil von allem bin, dann spüre ich (hoffentlich) diese, wie in der Aussage von Ruth C. Cohn, partielle Mächtigkeit.
«Die Frage ist falsch gestellt, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen. Das Leben ist es, das Fragen stellt.» Viktor E. Frankl
Sind wir an einem Punkt angekommen, an dem viele vor allem fordern? Nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst. Braucht es diese aktive Vorwärtsbewegung, das Finden von Antworten oder sollten wir hören, welche Fragen uns das Leben stellt? Auch hier wäre es wieder wichtig, Achtsamkeit zu praktizieren und eine Verbindung zu sich und den eigenen Bedürfnissen, Gedanken, (automatischen) Handlungsweisen herzustellen. Wir wollen Sinn (und versprechen uns damit möglicherweise auch Freiheit), dann sollten wir auch die Verantwortung dafür übernehmen.
Natürlich ist es gut und sinnvoll, sich für die Lage in der Welt zu interessieren. Hier plädiere ich jedoch für einen bewussteren Konsum und eine differenzierte(re) Sicht- und Denkweise. Da alles mit allem Verbunden ist, spüren wir natürlich in der einen oder anderen Form die Auswirkungen von Ereignissen, die uns überhaupt nicht betreffen oder zu betreffen scheinen. Auch hier geht es mir darum, zuerst die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und dann zur Gestalterin, zum Gestalter zu werden, anstatt «einfach» empört zu sein oder vorschnell und wenig hilfreich resp. nachhaltig zu handeln.
Dann gibt es tatsächlich ganz viele Menschen, die direkt von den Auswirkungen betroffen sind. Menschen, bei denen sich beispielsweise die Teuerung sehr spürbar auswirkt. Die sind oft mitten unter uns. Vielleicht sehen wir sie oder geben ihnen die Möglichkeit sich zu zeigen, wenn wir mit mehr Bewusstsein durch die Welt gehen. Dann können wir vielleicht helfen. Viel schneller, wirksamer und einfacher als wir meinen. Vielleicht.
Die kommentierten Textausschnitte sind nicht nur von zwei Menschen für deren Ansätze, Gedanken und Leben ich mich interessiere. Es sind auch Menschen, deren Aussagen für mich Gewicht haben, weil sie verfolgt wurden, weil sie viel Grund für Wut, Frustration und Pessimismus hatten. Weil sie wussten, wovon sie sprachen.
🔗Weiterführende Links
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🔗Foto von Arthur Brognoli
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