Slow down
Wir leben in einer Welt, in der es um «mehr von» geht. Schneller, höher, weiter, grösser. Eigentlich merken wir schon lange, dass uns das nicht guttut. Wir machen aber einfach weiter. Wir machen weiter, weil wir uns vielleicht von mehr Geld mehr Sicherheit versprechen. Möglicherweise meinen wir, mit mehr Bildungsabschlüssen mehr Freiheit zu erlangen. Geld und Status = Anerkennung, Sicherheit, Freiheit? Könnte sein, oder? Ich ertappe mich selbst auf jeden Fall immer wieder beim einen oder anderen solchen Gedanken oder den damit verbundenen Gefühlen.
Eine Industrie rund um die Selbstoptimierung
Ziel der Werbung ist, uns ein schlechtes Gefühl zu machen. Werbung zeigt uns, was uns fehlt und wie unser Leben mit diesem oder jenem Produkt besser werden kann. Vielleicht ist es nicht nur das Produkt selbst. Vielleicht wird noch ein Baum gepflanzt (irgendwo auf der Erde) oder ein paar Rappen oder Cent gehen an ein gemeinnütziges Projekt. Alles aus Nächstenliebe. Vielleicht. Was früher klar als Werbung erkennbar war, fliegt uns heute immer und überall um den Kopf. Es ist schwer (trotz verpflichtender Hinweise) immer zu erkennen, wo wir wie beeinflusst werden. Uns mangelt es also an so vielem. Rund um diese Mangelgefühle gibt es eine Industrie, die sich um uns kümmert. Menschen und Unternehmen, die es gut mit uns meinen. Sie zeigen uns, wie wir unser besseres Selbst werden können. Sie helfen uns, erfolgreicher, sportlicher, gesünder, gelassener und so vieles mehr zu werden. Mindset ist alles!
Wir lassen uns verarschen
Was wäre, wenn wir einfach gut sind, wie wir sind. Was wäre, wenn wir uns (mehr) akzeptieren würden? Was würde passieren, wenn wir einen Gang (oder noch einen mehr) zurückschalten würden? Was würde passieren, wenn wir uns auf das konzentrieren, was da ist? Den Fokus auf die Dinge lenken, die gut sind? Ja, ich weiss, auch daraus ist eine Industrie entstanden, die u. a. gerne McMindfulness genannt wird. Die Grenzen zwischen den guten und schlechten Ansätzen sind oft fliessend und schwer erkennbar. Wobei schnelle Lösungsversprechen selten hilfreich und nachhaltig sind. Davon lassen wir uns aber gerne verarschen.
Wirkliche Veränderungen
Wirkliche Veränderungen sind oft anstrengend und dauern deutlich länger, als wir uns das wünschen. Diese Veränderungen sind dann eher schleichend, leise und nicht sehr deutlich sichtbar. Dafür sind sie nachhaltig. Es könnte sogar sein, dass wir durch Akzeptanz oder durch Durchhalten (also irgendwie durch Passivität) etwas in unserem Leben in Bewegung bringen. Oder wie Roman Tschäppeler und Mikael Krogerus in ihrem Linkedin-Beitrag zur Komfortzone schreiben:
«Und noch ein Gedanke zur Komfortzone: Es ist richtig, manchmal das vertraute Terrain zu verlassen und Neues zu erleben. Aber manchmal ist das wirklich Mutige – im Job, in der Beziehung, in der Familie, mit Freunden – nicht, etwas Neues zu versuchen, sondern beim Alten zu bleiben. Und daran zu arbeiten. Bis die Magie 🪄 🎉 🌟 zum Vorschein kommt.»
Roman Tschäppeler und Mikael Krogerus
Es heisst so oft, wir sollen die Komfortzone verlassen, damit etwas magisches passieren kann. Brauchen wir den damit verbundenen Stress wirklich?
Ich und meine Komfortzone
Auf dem Weg zu meiner Magie machte ich mich selbstständig. Mir war sehr bewusst, dass ich mich aus meiner Komfortzone bewege und ich habe mich darauf vorbereitet. Da war eine Vision, da waren Ziele und Träume. Ich wusste, jetzt ist es Zeit. Dieses Bewegen ausserhalb der Komfortzone wurde jedoch immer mehr ein Drahtseilakt. Mein Fokus lag auf dem Ausbalancieren, auf dem Seil, auf dem Erreichen des anderen Endes.
«Wir befinden uns häufig in Situationen, in denen wir uns unsicher, überfordert, unrund fühlen. Und wenn man sich unsicher, überfordert und unrund fühlt, wird man zum Gegenteil dessen, was man eigentlich sein will. Man wird kleinkariert statt grossherzig. Skeptisch statt aufgeschlossen. Fahrig statt konzentriert. Versteinert statt freudig.»
Uns so, wie sie das hier beschreiben, habe ich das erlebt. So habe ich einen Weg gefunden, mich wieder mehr in meine Komfortzone zu bewegen. Ich bin wieder angestellt. Dort habe ich immer noch genügend Raum für Entwicklung, Veränderung und, das ist das Wichtigste, ich kann meine Stärken einsetzen, ich fühle mich kompetent, ich kann lernen (ohne das mein Hirn immer im Alarmmodus ist) und ich habe wieder Zeit und Energie für andere Menschen.
Diesen oben erwähnten Linkedin-Post habe ich gestern bereits im Blogbeitrag Im Hier und Jetzt erwähnt. Für mich bringt er so viel Wichtiges auf den Punkt. Gleichzeitig hat mich die Initiative von Slow-Learning inspiriert oder unterstreicht meine tief verankerte Überzeugung. Wir dürfen uns langsam und beständig «verändern» resp. dürfen langsam(er) (und tief) lernen, wir können und dürfen schwierige, anspruchsvolle oder auch langweilige Situationen und Lebensphasen aushalten. Aber, auch das ist (und bleibt wohl) ein Lernfeld für mich.
Slow down Inspiration
Hier sind einige Bücher, Autor:innen und Ansätze, die dich unterstützen können, wenn du langsamer unterwegs sein möchtest.
Wie man auch unter schwierigen Umständen Sinn finden kann und was es mit diesem Sinn auf sich hat, kannst du in den Büchern von Viktor E. Frankl lesen.
Ikigai wird oft falsch (als Venn-Diagramm) beschrieben. Dabei ist Ikigai nicht wirklich greifbar. Ken Mogi hat über Ikigai geschrieben und die fünf Säulen, die er beschreibt können helfen, das Leben langsam und beständig so zu leben, wie wir möchten. Weitere Inspiration gibts in seinem neueren Buch Nagomi.
Etwas tiefer und intensiver sind die Bücher von Russ Harris und Steven Hayes. In ihren Büchern rund um die Akzeptanz- und Commitmenttherapie zeigen sie, wie wir (trotz und mit Einschränkungen, Ängsten, Sorgen, Problemen) ein zufriedenes und erfülltes Leben führen können. Mehr über zwei dieser Bücher findest du hier.
Und natürlich die Bücher von Jon Kabat-Zinn über Achtsamkeit, die so viel mehr ist, als still auf einem Kissen zu sitzen und zu atmen.
Titelbild von Song Kaiyue