Nichts ist wirklich wirklich

Was ist, wenn nichts wirklich wirklich ist?

Nichts ist wirklich wirklich - aber jeder tut so, als gäbe es die Wirklichkeit

Radatz (2000), Beraten ohne Ratschlag: Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen

Einleitende Gedanken

In der Welt existieren so viele Theorien und Ansätze und natürlich finden alle ihre Anhänger*innen. Für sie sind diese Theorien, Grundlagen etc. die Wirklichkeit. Ihre Wirklichkeit. Auch im Bezug auf die Arbeitswelt sehen und hören wir Begrifflichkeiten wie New Work, VUCA, Agilität, New Learning, digitale Transformation usw. Die jeweiligen Anhänger*innen präsentieren ihre Welten als DIE Lösungen der Zukunft. Es ist DER Zug, auf den alle aufspringen müssen, wenn sie denn in der neuen Arbeitswelt bestehen wollen. Warum darf es nur eine Lösung geben?

Kann es sein, dass wir die Zukunft gar nicht kennen?

Natürlich kennen wir die Zukunft nicht. Wir können sie uns konstruieren und wir können Prognosen erstellen. Wir wissen aber nie, was morgen genau sein wird. Warum sollten wir also DIE Lösung für das Arbeiten der Zukunft kennen? So streiten die Menschen dann auch darum, was denn New Work nun ist und was nicht. Auf den Blogbeitrag Neue Arbeitswelt - aber wie? hat sich jemand bei mir gemeldet, der mit Frithjof Bergmann zusammengearbeitet hat und mir u. a. geschrieben: «Ich kann Dir versichern, dass der Ansatz von Bergmann ein umfassendes Gedankengebäude ist, das auf grundlegenden sozio-ökonomischen und philosophischen Überlegungen beruht.» Ich habe den Ansatz nie infrage gestellt, ich frage mich nur, wie können wir die Zukunft bereits heute in der Gegenwart gestalten und das Gute aus den verschiedenen Gedanken und Ansätzen nehmen. So, dass es vielleicht (noch) nicht diese grundlegenden Veränderungen braucht, die kaum jemand anzugehen bereit ist.

Wie wärs mit der «Coaching-Haltung»?

Auch hier ist es schwierig, die Coaching-Haltung zu definieren (in meiner Wirklichkeit nicht, da habe ich eine klare Vorstellung. Aber unter Coaching wird ja so vieles verkauft). Also mach dir beim Lesen doch noch einmal bewusst, dass es sich hier um meine Wirklichkeit handelt.

Ich beziehe mich hier grob auf die systemisch-konstruktivistische Denkweise und bedenke: «Zu erklären, was systemisch-konstruktivistisches Denken nun wirklich ist, begründet bereits den Widerspruch in sich: Es gibt wohl unendlich viele unterschiedliche Definitionen von Konstruktivismus ebenso wie von systemischer Arbeit - Definitionen, die hautpsächlich aus dem Blickwinkel des individuellen Tätigkeitsbereiches festgelegt werden.» Radatz (2000), Beraten ohne Ratschlag: Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen

So könnte (m)ein Ansatz ungefährt so lauten:

«Kein Ansatz, der sich auf Wissen, auf Training, auf die Annahme irgendeiner Lehre verlässt, kann auf Dauer von Nutzen sein. Haltung ist entscheidend, nicht Worte.»

Carl R. Rogers


Meine Arbeit als Coach ist u. a. von der personenzentrierten Gesprächsführung nach Carl R. Rogers sowie der «Coaching-Haltung», wie sie Sonja Radatz beschreibt, geprägt: «Helfen SIE mir dabei, dass ICH erkenne, wo mein Problem liegt, und unterstützen Sie mich bei MEINEN daran angrenzenden Lösungsversuchen!»*

Ich bin der Meinung, jeder Mensch trägt seine ganz individuelle Biografie mit sich und ist ein einzigartiges Individuum mit eigenen Verhaltensweisen und einer persönlichen Sichtweise auf sich und die Umgebung. Ich akzeptiere diese Einzigartigkeit und bin mir sicher, dass jeder über individuelle Stärken und Fähigkeiten verfügt. Als Coach begleite ich Menschen in ihrem Entwicklungsprozess und unterstütze sie, ihr eigenes Potenzial zu entdecken, selber Lösungen zu finden und ihrem Ziel ein Stück näher zu kommen oder dieses zu erreichen.

Beziehung als Grundlage eines gelingenden Coachings

Ich stelle im Begleitprozess ein Beziehungsangebot her. Dieses definiere ich durch, wie von C. R. Rogers beschrieben, empathisches Verstehen, unbedingte Wertschätzung und Kongruenz. Dass sich Coach und Klient als Partner begegnen erachte ich, wie bereits Rogers, als Grundlage einer gelingenden Begleitung. Ich sehe mich im Coaching in der Rolle des lösungsorientierten Prozessbegleiters und nehme eine nichtwissende und neugierige Haltung ein. Das heisst, ich muss das Problem des Kunden nicht zwingend analysieren und verstehen, um an der Lösung arbeiten zu können. Ich gehe davon aus, dass Menschen bereits über persönliche Ressourcen, die Lösung oder einen Teil der Lösung verfügen und eine Fokussierung auf die einzelnen Aspekte einer Lösung zielführender ist.

Was hier auf Einzelpersonen bezogen steht, könnte auch auf Organisationen angepasst werden. Natürlich wird es dann komplexer und doch werden individuelle Lösungen (oder vielleicht eher Wege) immer nachhaltiger sein als etwas, das so halb passt.

Mehr als nur eine Lösung

Natürlich wollen wir unsere Theorien, Ansätze und Erfahrungen verteidigen, wenn wir von ihnen überzeugt sind. Es ist aber auch immer so, dass es «nur» unsere Lösungen sind und diese nur teilweise bei anderen funktionieren. Klar ist, dass sich die Welt verändert hat und auch immer verändern wird. Schauen wir nun einmal auf ein paar der zu Beginn genannte Themen.

VUCA-Welt

Es ist, denke ich unbestritten, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der vieles Volatil, Unsicher, Mehrdeutig und Komplex ist. Es ist aber so, dass die Auswirkungen nicht für alle im gleichen Ausmass spürbar oder zumindest nicht direkt spürbar sind. Was für einige das Zentrum des Denkens und Handels geworden ist, scheint für andere noch unsichtbar und undenkbar. Bereits hier zeigen sich ganz unterschiedliche Wirklichkeiten.

New Work

Soll ich mich überhaupt noch an diesen Begriff wagen? Was für einige Benefits, mobiles Arbeiten und Homeoffice bedeutet, ist für andere «ein umfassendes Gedankengebäude, das auf grundlegenden sozio-ökonomischen und philosophischen Überlegungen beruht.» Es wird also kaum zielführend sein, bei einem Unternehmen gleich mit dem umfassenden Gedankengebäude zu kommen, wenn vieles noch so ist wie früher. Ganz ähnlich ist es bei (zumindest gefühlt) verwandten Themen wie Agilität und New Learning.

In letzter Zeit fallen mir auch immer mehr Beiträge auf, bei denen es darum geht, dass es bei der digitalen Transformation um Menschen geht und nicht um IT. Für mich geht es ganz klar um beides.

Solange wir an den Begriffen festhalten, werden wir keine erfolgreise Kommunikation führen und keine Probleme lösen können. Wir müssen ein Stücker hinter die Begriffswelt wandern und unseren Fokus darauf richten, was der jeweils andere mit dem meint, was er sagt.

Radatz (2000), Beraten ohne Ratschlag: Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen

Wenn nun jemand merkt, dass man doch New Work machen sollte, um in dieser VUCA-Welt zu bestehen oder ein gesundes Arbeitsumfeld mit psychologischer Sicherheit für seine Mitarbeitenden und sich selbst zu schaffen, dann ist es bereits ein erster Schritt. Man könnte schnelle und bereits bekannte Lösungen übernehmen. Aber was steckt wirklich hinter der Motivation der Veränderung? Wo sind innere und äussere Hürden? Welche Ressourcen stehen zur Verfügung?

So scheint es mir hilfreicher, kleinere Schritte zu machen und egal ob als Coach, Berater*in von aussen oder als Unternehmen selbst, zuerst einmal neugierig und mit Offenheit hinzuschauen und hinzuhören. Das ist eine riesen Herausforderung, die sich aber lohnt. Es gibt also nicht DIE LÖSUNG. Frederic Laloux (Laloux 2015) schreibt von ganz vielen verschiedenen Möglichkeiten, Veränderungen im Unternehmen vorzunehmen und alle können funktionieren. Die Wege sind so individuell wie die Unternehmen selbst.

«Je mehr ich einfach gewillt bin, inmitten dieser ganzen Komplexität des Lebens ich selbst zu sein, und je mehr ich gewillt bin, die Realitäten in mir selbst und im anderen zu verstehen und zu akzeptieren, desto mehr Veränderung scheint in Gang zu kommen.

Carl R. Rogers (Rogers 1973)

und wenn alles ganz anders ist?

Vielleicht ist alles ganz anders und auf jeden Fall tiefer und komplexer als hier beschrieben. Es ist der Versuch, nicht offensichtlich zusammenhängende Themen, die mir wichtig sind, in Verbindung zu stellen.


📚 Bücher

📘Radatz Sonja (2000), Beraten ohne Ratschlag: Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen

📘Rogers Carl. R. (1973), Entwicklung der Persönlichkeit: Psychotherapie aus Sicht eines Therapeuten

📘Die angstfreie Organisation, Amy Edmondson

🔗Weitere Links

📺 Schöne neue Arbeitswelt? SRF, Sternstunde Philosophie

«Die Arbeitswelt wandelt sich: flexible Arbeitszeiten, flache Hierarchien, agile Teams. Doch viele fühlen sich überfordert, sind erschöpft. Wie sollen Unternehmen für die Zukunft aufgestellt sein? Yves Bossart spricht mit der Leadership-Expertin Heike Bruch und dem Philosophen Martin Ebeling.»


Bild von fda54 auf Pixabay