Bewertungskultur

Leben in einer Bewertungskultur

Wir sind im Urlaub. Wenn ich Ferien buche, dann konsultiere ich oft Bewertungsportale. Ganz oft muss ich nicht einmal mehr das Portal wechseln, denn auf airbnb, booking.com etc. ist das immer bereits integriert. Eigentlich super. Super, weil schlechte Anbieter keine grosse Chance mehr haben, die Leute zu verarschen (denke ich zumindest). Super, weil ich so für mich passende Angebote finden kann und mich nicht überraschen lassen muss. Super, weil ich mir die Beratung im Reisebüro sparen kann.

Gestern sind wir also angekommen und weil wir die erste Nacht noch nicht in der gebuchten Wohnung, sondern im Hotel verbrachten, suchten wir uns ein Restaurant fürs Abendessen. Mit meiner Histaminintoleranz eh nicht ganz einfach. Also wollte ich die Restaurants auf Tripadvisor checken. Dann liess ich es bleiben, weil mir ein Gedanke durch den Kopf ging.

Alles und Jede:r wird bewertet

Nicht nur in der Schule und bei der Arbeit wird alles und jeder bewertet, auch in unserem Alltag. Wir bewerten mit Noten, mit Sternen, mit gut und schlecht, mit genügend und ungenügend. Es sind Menschen, die über andere urteilen, die sie beurteilen und oft auch verurteilen. Die Bewertungskriterien sind meistens unklar und noch wenn sie klar(er) sind, ist es eine Frage des Blickwinkels, eine Frage der Betrachtungsweise. Obwohl wir die Bewerter- und Verurteiler:innen nicht kennen, vertrauen wir auf ihr Urteil. Wie sinnvoll ist das? Ist oder wäre es nicht viel besser, eigene Erfahrungen zu machen?

Perspektivenwechsel

Während ich das schreibe, sehe ich etliche Surfer:innen, wie sie im Meer treiben, die Wellen beobachten und sich dann für «ihre» Welle entscheiden. Da sind offensichtliche Anfänger:innen und deutlich erfahrene Surfer:innen erkennbar. Die Erfahrenen befinden sich links bei den grösseren Wellen und die Anfänger:innen gleich unter unserem Balkon. Egal auf welcher Seite sich die Sportler:innen befinden. Sie warten, beobachten, vielleicht fühlen sie und dann entscheiden sie sich. Während einige die Wellen gekonnt reiten, schaffen es andere kaum oder nur kurz auf ihr Brett. Sie paddeln dann wieder weiter raus, warten, beobachten, bis sie sich wieder auf eine Welle einlassen. Die Wellen haben keine Bewertungen. Erst im Kontakt wird klar, ob die Welle und der Mensch in diesem Moment zusammenpassen.

Auswirkungen der Bewertungskultur

Es ist m. E. nicht nur eine Bewertungskultur, sondern auch eine Be- und Verurteilungskultur. Ich sage nicht, dass alles daran schlecht ist. Es ist auch nicht so, dass ich eine Lösung habe. Es scheint mir jedoch offensichtlich, wie viel negativen Einfluss dieses ständige Bewerten auf uns, unsere Entwicklung und unser Zusammenleben hat. Bewertungen sind i. d. R. Momentaufnahmen, sie sind subjektiv (auch wenn sie auf objektiven Kriterien aufbauen).

Bewertungen oder eine Bewertungskultur be- oder verhindert Lernen.


Foto: Ben Zaugg