Entlehrt euch!
Der Titel ist nicht von mir, sondern von einem Buch von Rolf Arnold, das ich gerade lese. Auf dem Buchrücken steht:
«Es ist an der Zeit, auch die didaktischen Schlussfolgerungen zu ziehen, die uns Lern- und Hirnforschung unisono nahelegen. Wir sollten endlich der Tatsache Rechnung tragen, dass Menschen lernfähig, aber unbelehrbar sind.»
Rolf Arnold
Wenn das so klar ist, warum wird dann immer noch und überall gelehrt? Die klugen Köpfe wie Professor*innen, Lehrer*innen und Bildungsexpert*innen können doch nicht nur lesen, sondern das Gelesene auch verarbeiten, verknüpfen und in die Praxis transferieren. Oder?
Was heisst entlehren?
Dafür empfehle ich dir das Buch 😉. Wenn Menschen aber lernfähig und unbelehrbar sind (das wissen wir ja auch ohne das Buch), dann brauchen wir dringend ein oder eben dieses andere Verständnis von Lernen. Das können wir den Menschen und uns selbst aber kaum lehren, sondern uns eher dazu inspirieren.
Was braucht es für Veränderung?
Für die Veränderung zu selbstgesteuertem und selbstverantwortetem Lernen braucht es Mut. Es braucht Mut, den Menschen etwas zuzutrauen, sie ausprobieren und erforschen zu lassen. Es braucht Mut, ihnen Freiraum zu geben, der im ersten Moment nicht produktiv scheint. Es braucht Mut, sich vom Alten (Denkweisen, Erfahrungen etc.) zu lösen und dem Neuen Raum zu geben.
Menschen lernen von Menschen und deshalb braucht es Möglichkeiten, damit diese Menschen zusammenkommen. Diese müssen gar nicht immer vom selben oder ähnlichen Fachgebiet sein. Gerade die Unterschiede können anregen, neue Perspektiven öffnen und vielleicht sogar zu Lösungen im eigenen (Fach-)Bereich führen.
Auch Individuen brauchen Mut. Sie brauchen den Mut, sich einem eigenen Lernprojekt zu widmen, ohne danach einen Abschluss in der Tasche zu haben. Es braucht Mut, in die eigenen Lernfähigkeiten zu vertrauen, obwohl sie vielleicht in der Vergangenheit schlechte oder schwierige Lernerfahrungen gemacht haben. Es braucht Mut, sich auf den Weg in die Zukunft zu machen (eigentlich ist diese Zukunft schon lange da).
Es braucht Kontakt zu sich selbst, um die Neugier, die eigenen Interessen und die Lust am Lernen wieder zu spüren. Da sind Fragen wie «was macht mir wirklich Freude?», «was habe ich als Kind gerne getan?», «was würde mich noch interessieren?» (Wenn es keine beruflichen, schulischen etc. Grenzen gäbe?), «welche Beziehung habe ich zum Lernen?», die beantworten werden können.
«Der will nicht», «die ist nicht motiviert», «aus dem wird nichts mehr», «zuerst die Arbeit (oder das Lernen) und dann das Vergnügen», was gäbe es da noch für Aussagen, die wir hinzufügen könnten. Wenn Menschen negative (Glaubens-)Sätze lange genug hören, glauben sie die irgendwann. Vielleicht oder ziemlich sicher glauben sie diese in ihrem tiefsten Inneren selten, fügen sich aber in diese (Selbst-)Konzepte ein, da es das Leben irgendwie «einfacher» macht. Es braucht also hier wieder auf beiden Seiten Arbeit. Warum denket jemand, dass der oder die andere nicht motiviert ist? Wer kann sich anmassen zu sagen, aus wem etwas wird und aus wem nicht? Und was heisst eigentlich «etwas aus einem werden?!». Die von «Aussen», also meistens Fachpersonen, sollten hier einmal über die Bücher. Wirklich. Ich möchte da gerne auf die Bücher von Carl R. Rogers und die Selbstaktuallisierungstendenz verweisen oder auf Gerald Hüther und die Neurobiologie. Natürlich trägt das «Opfer» (vielleicht nicht der beste Begriff) auch eine Verantwortung. Es kann sich nämlich von diesen (Glaubens-)Sätzen lösen und ins Handeln kommen. Da das hier zu weit führen würde, kann ich Bücher rund um die Logotherapie von Viktor E. Frankl, Selbsthilfebücher rund um die Akzeptanz- und Commitmenttherapie von Russ Harris empfehlen.
Das Vertrauen in das ganz natürliche Lernen und die eigene Lernfähigkeit wieder aufbauen. Am besten geht das mit Freude. Frag dich doch: «Was konnte ich vor einem Jahr noch nicht und heute gelingt es mir?» «Was kann ich besser als vor einer Woche?» «Was hat mir in den letzten Tagen, Wochen, Monaten besonders Freude gemacht?», «Welche Herausforderungen habe ich gemeistert und welche Fähigkeiten habe ich dabei genutzt?». Einige Fragen mögen schwieriger zu beantworten sein als andere, bei einigen lösen sie vielleicht Kopfschütteln aus oder ein leichtes Schulterzucken. Antworten wie «Das ist doch normal» oder «das kann doch jede*r» kommen hier oft vor.
Das sind nun einige mögliche Veränderungen, die alle auch in einer Form Lernen und Entwicklung beinhalten. Übrigens, du lernst gerade und falls du denkst, dass du inhaltlich nichts lernst, dann lernst du wenigstens etwas über meine momentane Sicht- und Denkweise.
Warum passiert so wenig?
Es gibt Bücher, Erkenntnisse, Studien, Neurobiologie, (zu) viele negative Schul- und Lernerfahrungen und trotzdem ändert sich kaum etwas. Klar, hier und da gibt es Lichtblicke und doch sind wir flächendeckend noch weit von einer kollektiven Freude am Lernen entfernt. Warum? Dazu habe ich ein paar Gedanken.
Remote, Blended Learning etc. sind Worte und Konzepte der Stunde. Ja, Lernen wird so zum Teil freier, zugänglicher und trotz der Distanz irgendwie gemeinschaftlicher. Wir können zusammen mit Menschen am anderen Ende der Welt etwas lernen. Wie cool ist das! Aber (leider kommt das Aber), ist das meiste immer noch reguliert, Lernziele werden vorgegeben, das Lerntempo ist für alle gleich, die Tiefe natürlich auch und es wird zertifiziert. Mit dem Digitalen wird viel Altes einfach neu verkauft.
Das Schul- und Weiterbildungssystem wird von innenheraus angepasst. Es sind einzelne (wenige) Schulen, Lehrpersonen, die es anders machen und das oft heimlich. Das hält das alte System auch am Leben.
Warum sollte man etwas ändern, das schon immer so funktioniert hat. Die Jugend und die Menschen sind einfach weicher geworden, die Kinder und Jugendlichen wurden verzogen und deshalb braucht es einfach mehr Regeln und Sanktionen. So könnte das bei der einen oder anderen Person klingen, die gerne an dem festhält, was immer schon war.
Man stelle sich vor, das Lernen wäre frei und die Menschen wären sich ihres Lernens bewusst. Sie würden sich fördern und fordern und wachsen. Das könnte dem einen oder anderen Angst machen. Sind solche Menschen noch führbar? Wo würden sie sich in einer Hirarchie einordnen?
Das mag alles etwas düster klingen, es ist aber Realität. Man muss nur hinsehen.
Da gibt es Inspiration
Weiter oben habe ich von Bücher gesprochen. Hier gibt es noch einige ganz konkrete Hinweise zu Personen und Büchern:
Harald Schirmer über das lebenslange Lernen, das für ihn eher wie Gefängnis klingt
Buch Über den Sinn des Lebens von Viktor Frankl
Selbsthilfebuch Wer dem Glück hinterher rennt, rennt daran vorbei von Russ Harris (man sollte ich nicht vom Einband und vom Titel täuschen lassen)
Buch Der neue Mensch (Konzepte der Humanwissenschaften) von Carl R. Rogers
Buch Entlehrt euch! von Rolf Arnold
Einen Blick in die Mediathek von Gerald Hüther werden
Foto: Pixabay auf pexels.com